Letzte Woche bat mich Frau A. um ein Beratungsgespräch. Ihr Mann ist an Demenz erkrankt. Zusätzlich leidet er unter den Folgen eines Schlaganfalls. Frau A. ist ratlos. Im Moment ist ihr Mann in einer Reha-Klinik. Sie weiß nicht, ob sie ihn in Zukunft weiter Zuhause versorgen kann.

Als Frau A. zu mir in die Praxis kommt, begrüße ich eine gepflegte, sportliche erscheinende Dame Anfang Siebzig. Mit ihrem jünger erscheinenden Aussehen und ihrer lebendigen Art scheint sie auf den ersten Blick gesund und für ihr Alter überdurchschnittlich belastungsfähig zu sein. Im Gespräch stellt sich aber schnell heraus, dass sie trotz mehrerer Operationen an der Wirbelsäule täglich unter starken Schmerzen leidet und seit einiger Zeit ein Medikament gegen Depressionen nimmt. Ihren Haushalt kann sie nur noch mit guter Einteilung und nach der Einnahme von Schmerzmedikamenten in Ordnung halten.

Sie erzählt, ihr Mann sei durch die dementielle Entwicklung im täglichen Zusammenleben in der letzten Zeit zunehmend schwierig geworden. Ruhige und schläfrige Phasen wechselten bei ihm plötzlich ab mit wütenden Gefühlsausbrüchen, Anklagen und Verdächtigungen ihr und anderen gegenüber. Der Kontakt mit dem kleinen Bekanntenkreis beschränkte sich inzwischen auf kurze Telefonate und Geburtstagsgrüße. Außer zu dem Sohn, der Schwiegertochter und zwei Enkelkindern hätte sie nur wenig Kontakt zu anderen Menschen, mit denen sie sprechen oder lachen konnte. Frau A. bemerkte, wie sehr sie vereinsamte.

Ein kleiner Lichtblick war die wöchentliche Teilnahme an einem Senioren – Kurs für Wassergymnastik im Thermalbad. Die meisten Teilnehmer kannten sich beim Namen, wünschten sich einen guten Tag oder sprachen kurz über das Wetter. Einige gingen hinterher gemeinsam in eine Gaststätte zum Mittagessen. Da Frau A. wieder rechtzeitig zu Hause sein musste, um die Dame aus dem Helferkreis der Alzheimer Gesellschaft abzulösen, musste sie auf diesen sozialen Kontakt verzichten. Außerdem bestand ihr Mann darauf, dass sie pünktlich um 12:30 Uhr mit ihm gemeinsam zu Mittag esse.

Unternahm Frau A. vorsichtige Versuche, den Tagesablauf auch an ihre Bedürfnisse anzupassen, zeigte Herr A. häufige Symptome bei Demenz, wie Rückzug, Anklagen oder Wutausbrüchen. Frau A. wusste, dass dieses Verhalten zum Teil auf die Demenz zurückzuführen war. Trotzdem fiel es ihr zunehmend schwerer, geduldig und beherrscht auf die Besonderheiten ihres Mannes einzugehen. Wurde es ihr zu viel, explodierte sie bei Kleinigkeiten. Hinterher hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie warf sich selber ungerechtes Verhalten vor und mahnte sich zu mehr Rücksicht gegenüber ihrem kranken Mann.

Vor zwei Wochen nun erlitt Herr A. einen Schlaganfall. Seine Frau hatte sofort den Hausnotruf betätigt. Der Rettungswagen und der Notarzt waren nach zwölf Minuten vor Ort. Nach der Erstversorgung wurde Herr A. auf die Schlaganfall – Station des nächsten Krankenhauses gebracht. Nachdem sein Zustand stabiler geworden war, kam er in eine Klinik für geriatrische Rehabilitation.

In der Physiotherapie zeigte sich, dass Herr A. zwar sein linkes Bein, seinen linken Arm und seine linke Hand wieder teilweise bewegen konnte, in der Ergotherapie konnte er aber nur sehr unsicher mit einzelnen Alltagsgegenständen hantieren. Oft fielen sie ihm wieder aus der linken Hand. Dann hatte er kaum eine Vorstellung davon, wie er seine Hand geschickter einsetzen könnte. Er war zwar motiviert, doch konnte er die Übungen für die Feinmotorik nur im Ansatz behalten und kaum selbständig weiter üben. Im Bereich der Neuropsychologie zeigte Herr A. ähnliche Schwierigkeiten. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, zeitliche Orientierung und Konzentrationsfähigkeit waren deutlich schwächer geworden, dazu bestätigte sich eine Anosognosie und ein Neglect nach links.

Und im Bereich der Logopädie zeigten sich ebenfalls schwere Schädigungen. Der Schlaganfall hatte besonders das Sprachzentrum getroffen. Dadurch verstand Herr A. nur noch einen Teil des Gesagten. Das meiste vergaß er oft schon nach wenigen Sekunden.

Dazu kam eine Teillähmung der Schluckmuskulatur. Er hatte neben der Aphasie auch eine Schluckstörung. An jedem Bissen oder einem Löffel Joghurt hätte er sich ohne Kontrolle lebensgefährlich verschlucken können. Deswegen musste Herr A. vorerst künstlich ernährt werden.

Dazu kam der Verlust der Kontinenz. Herr A. bekam einen Katheter mit Urinbeutel und musste wegen der Inkontinenz Windeln für Erwachsene tragen. Die Körperkontrolle war ebenfalls deutlich erschwert. Selbständiges Hinsetzen, freies Sitzen oder sicheres Hinlegen war ihm auch nicht möglich. Wenn er in den Rollstuhl wollte, brauchte er maximale Hilfe durch mindestens zwei Pfleger oder Therapeuten. Saß er im Rollstuhl, konnte er maximal 1 Stunde am Tisch sitzen. Gewohnheitsmäßig setzte er sich dann mit Hilfe seine Lesebrille auf und blätterte in einer Zeitung. Aber das Geschriebene konnte er wegen der Aphasie nicht mehr entziffern. Ermüdete er, musste er schnellstmöglich wieder in sein Bett zurückgebracht werden. Da er dabei oft sehr unruhig war, wurden dazu zeitweise drei Helfer gebraucht.

Frau A. befand sich nun in einem ernst zu nehmenden seelischen Dilemma. Auf der einen Seite wollte sie ihr Versprechen einhalten, „in guten wie in schlechten Zeiten“ ihrem Mann zur Seite zu stehen. Auf der anderen Seite merkte sie, wie ihre körperlichen und mentalen Kräfte nachließen. Sie musste sich selber eingestehen, dass sie diesen nun erforderlichen hohen pflegerischen Anforderungen nicht mehr gewachsen war. Daher war sie froh gewesen, als ihr Sohn vorschlug, eine Hilfskraft aus Osteuropa als 24-Stunden-Hilfe zu engagieren. Diese sollte dann mit in die Drei-Zimmer-Wohnung einziehen und helfen, den Ehemann und Vater zu versorgen.

Doch nachdem Frau A. mehrmals erlebt hatte, welche Anforderungen die Pflege ihres Mannes an die geübten Krankenschwestern und Therapeuten stellten, bekam sie begründete Zweifel. Wie sollte sie mit einer einfachen pflegerischen Hilfskraft diesen großen Mann mit seinem starken Willen und deutlichen kognitiven und motorischen Störungen Tag und Nacht versorgen? Reichten die räumlichen Verhältnisse für Pflegebett, Lagerungsrollstuhl, Wannenlifter, Mobiliar für die unbekannte Pflegekraft, Stauraum für Pflegeutensilien wie Windelpakete, zusätzliches Bettzeug, Platz zum Trocknen bei dem erhöhten Wäschebedarf, Platz zum Essen, Platz für ihr eigenes Bett, eine ruhige Ecke zum Ausruhen?

Plötzlich war Frau A. klar geworden, dass sie mit der Situation überfordert war. Sie wollte ihren Mann weiter unterstützen, ihm helfen und ihm Gutes tun. Doch sie erkannte ihre Grenzen. Als sie mit ihren Angehörigen darüber sprach, waren die Reaktionen gemischt. Die einen verstanden ihre Zweifel und boten ihr an, bei der Suche nach einem guten Pflegeheim zu helfen. Die anderen reagierten mit Unverständnis, machten ihr Vorwürfe und erwarteten, dass Frau A. den Ehemann weiter Zuhause behielt. Alles andere sei herzlos und ungerecht gegenüber diesem armen Mann. Und Herr A. sollte in ca. 10 Tagen aus der Reha entlassen werden!

In dieser Zwickmühle war Frau A., als sie zu mir kam. Um ihr das Sprechen leichter zu machen, habe ich sie erst einmal mit meinen beiden vierbeinigen Mitarbeitern, dem Mischling „Lilou“ und dem Jack Russell Terrier „John“ bekannt gemacht. Die beiden unterstützen mich in der Aktivitäts-Therapie mit Hund. Meistens arbeiten wir mit Menschen, die einen Schlaganfall hatten oder eine Demenz-Erkrankung haben. Und bei Beratungsgesprächen mit Angehörigen, die eine sehr anstrengende Lebensphase meistern müssen, können sie immer wieder ein Lächeln und glückliche Momente hervorzaubern. So auch bei Frau A. Nach der Begrüßung dauerte es nur wenige Minuten, und schon saß die rotbraune „Lilou“ hoch zufrieden auf dem Schoß von Frau A. und ließ sich genussvoll streicheln. Während ich uns eine Tasse duftenden Kaffee einschenkte, hatte „John“ schon die Rolle des „Bodenpersonals“ übernommen. Er rollte sich neben ihren Füßen zusammen, eine Pfote
elegant über ihren linken Fuß gelegt. So freundlich umgarnt, fiel es Frau A. zunehmend leichter, ihre Situation zu schildern und von ihren Ängsten und Zweifeln zu sprechen.

Nach zwei Stunden und einem abschließenden kurzen Spaziergang mit den beiden Hunden hatte Frau A. für sich und ihren Mann eine Leitlinie gefunden. Ich bot ihr einen Block an und sie schrieb das auf, was sie am Abend ihrer Familie sagen wollte. Den Inhalt gebe ich hier mit meinen Worten wieder.

„Ihr wisst, ich hatte mehrere ausführliche Gespräche mit Vaters Arzt. In den letzten Tagen war ich auch mehrfach bei allen Therapien und Pflegemaßnahmen dabei. Das hat mich sehr traurig gemacht. Aber ich kann Vaters Gesundheitszustand jetzt besser einschätzen.

Ich weiß jetzt, dass er viel mehr fachmännische Pflege und Hilfe braucht, als ich am Anfang gedacht habe. Das kann ich alleine mit einer nur angelernten, häufig wechselnden Hilfskraft aus Osteuropa nicht leisten. Damit gefährde ich Euren Vater, die Helferin und mich selber.

Deswegen musste ich umdenken. Dabei bin ich zu folgendem Entschluss gekommen:“„Ich werde Vater nur dann in unserer gemeinsamen Wohnung versorgen können, wenn dreimal täglich ein Pflegedienst mit zwei Mitarbeitern kommt und ich täglich Hilfe aus der Familie bekomme. Du, unser Sohn, meine Schwiegertochter und zwei große Enkel wohnen im Nachbarhaus. Wenn Ihr bereit sind, den Vater und Großvater täglich am Abend zu seiner gewohnten Zeit ins Bett zu bringen, mir zu helfen, die Windel zu wechseln und den Schlafanzug anzuziehen, kann die Pflege Zuhause gelingen.“

„Da der Vater auch an die frische Luft oder zu Untersuchungen gebracht werden muss, werdet ihr ihn mit Anziehen, Umsetzen und im Rollstuhl schieben müssen. Ich habe schon eine Schiebehilfe ausprobiert. Damit könnte es auf Dauer leichter werden.“

„Soll Vater von uns Zuhause sicher versorgt und gepflegt werden, müsstet ihr vorher das jetzige Wohnzimmer umräumen. Dabei kann ich wegen meiner Bandscheibenvorfälle wenig mithelfen. Danach müssten wir einen Maler beauftragen, den Raum neu zu tapezieren. Dies würde dann Vaters Wohn – und Schlafzimmer werden.“

„Das jetzige Schlafzimmer kann so bleiben. Das werde ich so weiter benutzen. Auf Vaters ehemaliges Bett kann ich die Pflegehilfsmittel legen und die Bügelwäsche. Daneben ist Platz für das Bügelbrett und das kleine Wäschereck“.„Das ehemalige Kinderzimmer werden wir ausräumen müssen. Meine liebe Schwiegertochter kann gerne die Nähmaschine nehmen und die vielen Garne und
Stoffe. Lieber Sohn und ihr beiden Enkel, Ihr könnt schauen, was ihr von Papas Werkzeug oder den alten Spielsachen behalten möchte. Alles andere könnt ihr auf dem Flohmarkt, bei EBay verkaufen oder zum Sperrmüll bringen.“

„Wenn das Kinderzimmer leer ist, möchte ich es auch neu tapezieren lassen. Danach werde ich es gemütlich einrichten. Dann habe ich auch ein Zimmer für mich. Dort kann ich auch einmal eine Freundin zum Tee einladen, in Ruhe lesen, Musik hören oder lernen, wie ich mich mit anderen Menschen im Internet unterhalten kann. Fernsehen können Vater und ich dann weiter gemeinsam im früheren Wohnzimmer.“

„Bis das soweit ist, wird es mindestens vier Wochen dauern. Für diese Übergangszeit brauchen wir für Vater einen Platz in einer Kurzzeitpflege. In der Reha Klinik ist ein Berater vom Sozialdienst. Er kann uns bei der Suche und bei den Anträgen helfen. Und von Vaters Arzt können wir Physiotherapie und Ergotherapie – Rezepte bekommen. So kann er weiter üben, und für uns wird die Pflege leichter.“

„Wenn Ihr damit einverstanden seid und mitmacht, bin ich bereit dazu, Vater wieder nach Hause zu holen und ihn zusammen mit Euch und einem Pflegedienst zu versorgen. Ist es Euch zu viel neben Eurer Arbeit und Eurem Haushalt und Garten, werden wir ihn leider in ein Pflegeheim bringen müssen. Dort können wir ihn abwechselnd jeden Tag besuchen und mit ihm die Dinge machen, zu denen das Pflegepersonal keine Zeit hat.“

„Das sind die beiden Alternativen, die ich sehe und für möglich halte. Wenn Ihr Zweifel habt, dann können wir gerne noch einmal ein gemeinsames Gespräch mit dem Arzt und den Therapeuten vereinbaren. Vielleicht habt ihr danach noch eine bessere Idee.“

Nachdem Frau A. ihre Gedanken langsam und konzentriert vorgelesen hatte, änderte sie noch einige Formulierungen und wiederholte sie nochmals. Als sie fertig war, blickte sie zuerst „Lilou“ und dann „John“ an. „Na,“ fragte sie die Beiden mit einem erschöpften Gesichtsausdruck und Zittern in der Stimme, „was meint Ihr? Habe ich das jetzt richtig gesagt?“ Beide Hunde überschütteten Frau A. daraufhin spontan mit ihren temperamentvollen Sympathiebekundungen, hüpften um sie herum, wedelten mit den Ruten und quiekten wie kleine, lustige Ferkel.

Und plötzlich löste sich bei Frau A. die ganze Anspannung der letzten Tage. Sie hatte lange ihre Tränen zurückgehalten. Nun weinte und lachte sie gleichzeitig. Wir machten noch ein Foto von Frau A. mit „Lilou“ und „John“ und ich schenkte ihr eine zart duftende rosa-gelbe Blüte von unserer Kletterrose. Ein guter Beginn für eine neue Zeit. Wir wünschen Frau A. und Ihrer Familie Kraft, Zuversicht und gutes Gelingen in dieser anstrengenden Lebensphase.

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